„Behinderung ist etwas, das jeden treffen kann!“

An der Fachschule für Sozialwesen der Johannes-Diakonie Mosbach werden seit November 2017 sechs Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung im Rahmen des Projektes „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ zu Bildungsfachkräften qualifiziert. Nach erfolgreicher dreijähriger Ausbildung unterrichten sie als Expertinnen und Experten in eigener Sache an Fach- und Hochschulen. Der Schwerpunkt liegt darauf, dass die Menschen mit Behinderung den angehenden Lehr-, Fach- und Führungskräften Einblicke in ihre Lebenswelt und ihren Alltag ermöglichen und ihnen ihre Bedarfe als Mensch mit Behinderung sowie ihre spezifische Sichtweise vermitteln. Weiterhin klären sie über die Chancen der Inklusion auf. Somit ist Inklusion nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern wird durch die Berichte der angehenden Bildungsfachkräfte erfahrbar und führt zu einer Bereicherung und einer Erweiterung der Perspektive.
Ein weiteres vorrangiges Ziel des Projekts ist es, den Menschen mit Behinderung durch ihre Qualifikation zur Bildungsfachkraft einen existenzsichernden Arbeitsplatz auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Bisher haben die angehenden Bildungsfach-kräfte in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) gearbeitet

Einer der sechs Menschen mit Behinderung, die sich bereits in der Ausbildung zur Bildungsfachkraft befinden, ist Thorsten Lihl. Der sympathische junge Mann hat bisher in der Werkstatt Vogelstang der Gemeindediakonie Mannheim gearbeitet und sich nun aufgemacht, angehenden Fach- und Führungskräften in pädagogischen Berufen, seine persönliche Situation, aber auch die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung nahezubringen. Wichtige Inklusionsarbeit, durch die das Thema nicht nur theoretisch behandelt wird, sondern mitten in der Gesellschaft lebendig wird.

Wir sind mit Thorsten Lihl ins Gespräch gekommen.

GDM: Herr Lihl, wie kam es, dass Sie sich für das Projekt „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ interessiert und letztlich auch dafür beworben haben?
Thorsten Lihl: Nach 15 Jahren in der Werkstatt Vogelstang wollte ich unbedingt etwas Neues machen, eine neue Herausforderung meistern. Ich habe längst gespürt, dass ich mit der Arbeit in der Werkstatt unterfordert bin und mich diese nicht mehr ausfüllt. Als Frau Ruck, die Leiterin Pädagogik in der Werkstatt Vogelstang, mir dann den Flyer des Projekts „Inklusive Bildung Baden-Württemberg in die Hand gedrückt hat, war mir klar, dass ich mich dafür bewerben würde. Die Vorstellung, angehenden Führungskräften die Lebenswelten, die Sichtweisen und die Bedarfe von Menschen mit Behinderung zu vermitteln fand ich sehr interessant und spannend. Außerdem konnte ich mir gut vorstellen, meine Stärken in dem Projekt einzubringen.

GDM: Wie ist das Bewerbungsverfahren abgelaufen?
Thorsten Lihl: Zunächst wurde ich zu einem Vorgespräch mit Herrn Friebe, dem Projektleiter von Inklusive Bildung Baden-Württemberg eingeladen. Das eigentliche Bewerbungsgespräch hat später in einem größeren Rahmen stattgefunden – mit Herrn Friebe, der stellvertretenden Leitung der Fachschule für Sozialwesen in Neckarbischofsheim und 2 Mitarbeiterinnen des Instituts für Inklusive Bildung gemeinnützige gGmbH in Kiel.*

*Anmerkung der Redaktion: Das Institut für Inklusive Bildung in Kiel ist der Kooperationspartner der Fachschule für Sozialwesen der Johannes-Diakonie Mosbach beim Projekt „Inklusive Bildung Ba-Wü“.

Da ich mir vorgenommen hatte, die Gesprächsteilnehmer unbedingt zu beeindrucken und sie von mir zu überzeugen, habe ich eine Power-Point-Präsentation zum Thema Behinderung erstellt, mit meinen ganz persönlichen Ansichten und meiner Meinung. Offensichtlich habe ich sie damit überzeugt, denn bereits 2 Tage später erhielt ich die positive Rückmeldung, dass ich ausgewählt wurde. Eigentlich war die Bedingung für eine Bewerbung, dass die Bewerber eigenständig nach Heidelberg fahren können. Obwohl mir dies leider nicht möglich ist und ich hier auf Hilfe angewiesen bin, wurde ich ausgewählt und konnte mich gegenüber insgesamt 40 weiteren Bewerber behaupten. Das macht mich schon ein bisschen stolz!

GDM: Was möchten Sie den zukünftigen Fach- und Führungskräften vermitteln? Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Thorsten Lihl: Am wichtigsten ist mir, dass die immer noch bestehenden Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung abgebaut werden und Inklusion endlich gelebt und in der Gesellschaft umgesetzt wird! Denn, Behinderung ist etwas, das jeden treffen kann. Meiner Meinung nach wird zwar viel über das Thema Inklusion geredet, aber die wenigsten setzen diese auch um. Dies zeigt sich oft an ganz banalen Beispielen und man erlebt es als Mensch mit Behinderung oft am eigenen Leib.

Wenn ich bspw. mit meinem Betreuer einkaufen gehe, kommt es häufig vor, dass die Verkäufer meinen Betreuer ansprechen und mit ihm über mich sprechen, als ob ich gar nicht anwesend sei. Das ist sehr verletzend, ärgert mich aber auch maßlos. Schließlich bin ich der Kunde und möchte auch so behandelt werden.

GDM: Wie anstrengend empfinden Sie die Vorbereitung eines Seminars?
Thorsten Lihl: Na ja, es ist schon ein Unterschied, ob man den ganzen Tag körperlich arbeitet, wie es in der Werkstatt der Fall ist oder, ob man geistig arbeitet. Wobei ich die geistige Arbeit in Form von Seminarvorbereitungen mindestens genauso anstrengend finde. Jedoch ist es für mich wesentlich spannender und aufregender als die körperliche Arbeit in der Werkstatt.

Und, wir sind ein tolles Team und verstehen uns untereinander alle sehr gut. Das Teamwork funktioniert perfekt und wir erfahren eine große Unterstützung von unserer Projektkoordinatorin, der Qualifizierungsleitung und Projektleitung und allen an dem Projekt Beteiligten.

GDM: Was bedeutet die Ausbildung zur Bildungsfachkraft für Sie persönlich?
Thorsten Lihl: Mit der Ausbildung habe ich endlich ein persönliches Ziel erreicht, welches ich mir schon lange gesteckt hatte. Leider habe ich in meinem privaten Umfeld aber nicht immer nur positive Reaktionen im Hinblick auf meine Ausbildung erfahren. Einige Freunde sind neidisch auf die großartige Möglichkeit, die sich mir eröffnet hat. Glücklicherweise habe ich aber eine sehr gute Freundin, die immer ehrlich zu mir ist und mich in meinem Vorhaben von Anfang an tatkräftig unterstützt hat. Das hat mich natürlich zusätzlich angespornt, mich zu bewerben und alles daran zu setzen, die Entscheider davon zu überzeugen, dass ich der richtige Mann bin!

GDM: In wie weit fördert Sie die Ausbildung bzw. was bedeutet sie für Ihre persönliche Entwicklung?
Thorsten Lihl: Ein großer Wunsch von mir war immer, ein selbstbewussteres Auftreten zu erlangen, mein Selbstbewusstsein weiter zu steigern. Ich glaube, da habe ich noch Luft nach oben…. Witziger weise bin ich bei Präsentationen vor kleineren Gruppen viel aufgeregter als vor größeren Gruppen. Aber ich arbeite mit meinen Mitstreitern täglich daran, die Nervosität mehr und mehr abzulegen und selbstsicherer aufzutreten. Dabei helfen mir die Ausbildung und der Erfahrungsaustausch mit den anderen zukünftigen Bildungsfachkräften, aber auch mit unserer Qualifizierungsleitung ungemein.

Vielen Dank für das aufschlussreiche und angenehme Gespräch, Herr Lihl!

Weiterführende Informationen zu dem Projekt „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ finden Sie unter dem Link http://bw.inklusive-bildung.org.